Es dämmert. Langsam fällt die Nacht über die Stadt her und nimmt sie für sich ein. Die Menschen sitzen in ihren Häusern. Essen, trinken, lesen, sehen fern. Machen sich für's Bett bereit. Auch ich treffe Vorbereitungen für die Nacht. Überprüfe jeden Quadratzentimeter in meiner Gruft. Suche nach kleinen Öffnungen, durch die sie eindringen können. Und wie an jedem Abend rufe ich ihn. Manchmal nur einmal, leise, manchmal mehrmals, stundenlang. Aber er kommt nie. Der Tod. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Als er mich holen wollte. Vor so unendlich langer Zeit. Ich wollte damals noch nicht mitkommen. Habe gebettelt. Gefleht. Und er lenkte ein, bot mir ein Spiel an. Ein Spiel, das ich gewann, und mir so Unsterblichkeit sicherte. Die ersten hundert Jahre danach war ich immer noch davon überzeugt, den Tod geschlagen zu haben. Fataler Irrtum. Er hatte mich gewinnen lassen. Ich war zwar unsterblich, aber mein Körper begann dennoch langsam zu verwesen. Starb allmählich weg. Aber nie so ganz. Er regenerierte sich gleichzeitig auch. Und pendelte sich bei einem grau-fahlen halb-verrotteten Erscheinungsbild ein. Ich rufe noch einige Male nach ihm. Nutzlos. Er wird nicht kommen. Ich lege mich hin. Versuche zu schlafen. Auch das wird nicht funktionieren. Ich höre schon wieder ihr Nagen und Kratzen. Ratten. Von dem süsslichen Geruch angelockt, den mein Körper produziert. Einmal habe ich nicht aufgepasst und sie haben mir beide Augen rausgefressen. Dauerte fünf Jahre bis sie nachgewachsen waren. Sehr schmerzhaft. Das Nagen wird lauter. Kommt näher. Oder doch nicht? Ich flüstere seinen Namen. Dies wird eine lange Nacht werden.
heftig, heftig, weiter so, ein sehr gelugener sarkastischer schreibstil...
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